Teil 1:
Frage: Frau Polman, nach dem Lesen Ihres Buchs "Die Mitleidsindustrie" traut man sich kaum noch, Geld an eine Hilfsorganisation zu spenden. Wollten Sie das erreichen?
Polman: Nein, das war nicht meine Absicht. Aber mir ist klar, dass man nach dem Lesen geschockt ist.
Frage: Weltweit existieren mehr als 37.000 Nicht-Regierungs-Organisationen (NGO). Bei Ihnen klingt es so, als könne man keiner einzigen vertrauen.
Polman: Es geht nicht darum, dass man einzelnen nicht vertrauen könnte. Es geht darum, dass die Organisationen in Krisengebiete fahren und mit den lokalen Behörden und Autoritäten zusammenarbeiten müssen. Das sind häufig Rebellen oder Militärregime, und dann werden die Spenden missbraucht.
Frage: Wie sieht der Missbrauch aus?
Polman: Exakt so, wie ich es in Sierra Leone 1999 zum ersten Mal bewusst verfolgt habe. Es war eine wahrhaft dunkle Zeit, ohne Benzin für die Generatoren und Batterien für die Radios. Nirgendwo lief Musik, und Nachrichten drangen auch kaum ins Land. Das änderte sich schlagartig, als das Friedensabkommen zwischen der Regierung und den Rebellen unterschrieben war. Mehr als 200 internationale Hilfsorganisationen kamen in die Hauptstadt Freetown, Autos fuhren wieder, man hörte Musik, und die Restaurants machten ebenso auf wie der Golfklub - die Mitarbeiter der Organisationen wollten sich ja auch mal vergnügen.
Frage: Was war daran so schlecht?
Polman: Zuerst dachte ich, dass die Menschen gerettet sind. Aber das stimmte nicht. Ich lebte bereits seit einigen Jahren dort und kannte diejenigen, die mit Schuld an dem Krieg waren. Und die hatten plötzlich Zugang zu den Geldern der Hilfsorganisationen. Die Business-Elite, die Teil des Systems war, machte Geschäfte mit den Organisationen, versorgte sie und sorgte dafür, dass die Rebellen und nicht die Opfer des Kriegs bevorzugt wurden. Später, in Liberia, Somalia, Kongo und Afghanistan habe ich die gleichen Mechanismen vorgefunden.
Frage: Sie waren auch in Ruanda, wo 1994 radikale Hutu innerhalb von drei Monaten bis zu eine Million moderate Hutu und Tutsi ermordeten. Allein für die Soforthilfe, die daraufhin einsetzte, wurden anderthalb Milliarden Dollar zusammengebracht. Sie sagen, dass es eben dieses Geld war, das ein schnelles Ende des Krieges verhinderte. Ein schwerer Vorwurf.
Polman: Es gibt Beweise für diese These. Die Täter flohen nach dem Massaker ins benachbarte Goma im heutigen Kongo, ließen sich in den Lagern der internationalen Hilfsorganisationen nieder und regierten die Camps. Sie nahmen sich, was sie brauchten und kassierten eine Art Steuer von den Mitarbeitern der Organisationen. Von den Geldern kauften sie unter anderem Waffen. Die Spenden finanzierten also den Krieg.
Frage: Wie viel Geld wurde gestohlen?
Polman: Wenn wir das wüssten... Für Somalia stellte die Uno Monitoring Group im März fest, dass die Hälfte der Nahrungsmittelhilfe des Welternährungsprogramms in den Taschen der Warlords, ihrer Geschäftspartner sowie lokaler Mitarbeiter landete. In Zahlen: Mehr als 200 Millionen Dollar pro Jahr verschwanden.
Frage: Unternahmen die Mitarbeiter der Organisationen in Goma nichts gegen den Missbrauch?
Polman: Sie konnten nichts machen, und sie wollten sich auch nicht einmischen. Den Hilfsorganisationen ist es wichtig, ihre Neutralität zu wahren. Ich halte das für falsch. Alle Parteien in diesen Konflikten und Kriegen betrachten die internationale Hilfe als Teil des Krieges und missbrauchen sie für ihre Zwecke. Wie kann man sich dann für neutral erklären?! Wenn man nicht Teil eines Krieges sein will, dann sollte man das Land verlassen. Das ist eine schwierige Entscheidung, aber der muss man sich stellen.
Frage: Wer käme dann aber den Zivilisten, Frauen und Kindern zu Hilfe?
Polman: Ich stelle diese Frage immer anders: Ab welchem Punkt schadet die Hilfe den Opfern mehr, als dass sie Leiden lindert? Wenn die Täter stärker profitieren als die Guten, ist es nicht immer die beste Option, zu bleiben.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen