Frage: Entwickelt wurde die systematische humanitäre Hilfe Mitte des 19. Jahrhunderts. Existierten die Probleme, die Sie schildern, schon damals?
Polman: Das Dilemma, dass die Hilfe missbraucht wird, ist so alt wie die Hilfe selbst. Der britische Kriegsminister zum Beispiel bat die später berühmt gewordene Krankenschwester Florence Nightingale, die verwundeten Soldaten des Krimkrieges zu versorgen. So musste er weder Geld noch Zeit verwenden und sich nicht um seine Soldaten kümmern. Gleichzeitig stieg das Ansehen der britischen Armee, weil es eine medizinische Versorgung gab. Seitdem war Nightingale überzeugt, dass man die Verantwortung an diejenigen zurückgeben müsse, die das Leid verursachen und die Schuld an Kriegen tragen.
Frage: Henry Dunant, der Mitbegründer des Internationalen Roten Kreuzes, glaubte an das Gegenteil.
Polman: Dunant war der Meinung, dass man jedem Verwundeten auf dieser Welt helfen müsse, weil er Anspruch darauf hätte. Die Frage nach der Verantwortung stellte sich für ihn nicht, er wollte sich nicht in die Politik einmischen. Schon damals gab es also diesen Konflikt, aber Dunants Meinung setzte sich in der Öffentlichkeit durch. Und nach diesen Grundsätzen arbeiten die Hilfsorganisationen bis heute.
Frage: Versuchen Kriegsparteien, die humanitäre Hilfe zu steuern und vorsätzlich in ihre Konflikte hineinzuziehen?
Polman: Ich glaube schon. Die rasant wachsende Zahl der NGOs seit Ende des Kalten Krieges hat es einfacher gemacht, die Hilfe zu manipulieren. Inzwischen ist das Wissen, wie die Hilfsindustrie arbeitet, weit verbreitet. In den Flüchtlingslagern gibt es zum Beispiel Internetanschlüsse, und wenn man 20 humanitäre Missionen gesehen hat, weiß man, wie sie funktionieren. Die Empfänger lernen daraus. Sie sind vielleicht arm, aber sie sind nicht blöd. Das unterschätzen wir.
Frage: Sie kritisieren zudem, dass sich Mitarbeiter von Hilfsorganisationen Erste-Klasse-Flüge gönnen, Prostituierte besuchen und Lebensmittel importieren, während andere hungern. Sind das Einzelfälle?
Polman: Nein. In dem Moment, in dem die weiße Karawane der Helfer in eine Stadt wie Kabul oder Freetown einzieht, wird viel Geld bewegt. Das zieht Geschäftsleute ebenso an wie Prostituierte. Das ist nur logisch, das kann man auch beobachten, wenn sich irgendwo eine westliche Ölfirma niederlässt. Ich glaube aber, dass Hilfsarbeiter einem höheren moralischen Standard verpflichtet sein sollten. Und wenn Hilfsarbeiter minderjährige Prostituierte besuchen, finde ich das unerträglich!
Frage: Das haben Sie erlebt?
Polman: Ja. Es waren große, fette, weiße Hilfsarbeiter.
Frage: Eine wichtige Rolle spielen die Medien. Erst wenn Journalisten in ein Gebiet reisen und über den Krieg oder die Katastrophe berichten, wird die Öffentlichkeit mobilisiert und spendet. Wann ist eine Krise für die Medien interessant?
Polman: Wenn sie mehr Opfer hervorbringt als die letzte. Dann muss sie in einer Region liegen, die für Journalisten gut erreichbar und nicht zu gefährlich ist. In Afghanistan etwa ist das Risiko zu groß, deswegen ist es schwierig, für das Land Hilfe zu bekommen. Und: Die Opfer müssen gut zu fotografieren oder zu filmen sein.
Frage: Bekamen die Amputierten in Sierra Leone deshalb so viel Aufmerksamkeit? Die Rebellen hackten ihnen die Gliedmaßen ab.
Polman: Ja. Ich bezweifle, dass sich die Kamerateams und Fotografen für sie interessiert hätten, wenn sie nicht so dramatisch ausgesehen hätten. Über andere, die infolge des Krieges an Krankheiten litten oder schlicht zu wenig Essen hatten, wurde kaum berichtet.
Frage: Wie hat die ständige Berichterstattung das Leben der Amputierten verändert?
Polman: Sie lernten, dass sie ihr Leben auch vor der Kamera verbringen können. Es gab nämlich Journalisten, die ihnen Geld zahlten, vor allem den Kindern. Ein Mädchen, das ich aus den Camps in Freetown kenne, war elf oder zwölf, als sie amputiert wurde. Sie lebt jetzt in Kanada, wird von Unicef als eine Art Maskottchen benutzt und hat ein Buch geschrieben. Darin kann man nachlesen, dass sie in einem Wettbewerb mit den anderen Amputierten stand. Also erfand sie Geschichten und erzählte, dass die Rebellen sie vergewaltigt und gezwungen hätten, andere Kinder zu verstümmeln. Sie lernte, im Sinne der Medien ein besseres Opfer zu sein als andere. Ich finde, wenn ein junges Mädchen so etwas sagt, sollte das ein alarmierendes Zeichen für uns sein.
Frage: Sie kritisieren die Medien und die Hilfsorganisationen sehr deutlich. Sprechen die überhaupt noch mit ihnen?
Polman: Ja. Einige meiner besten Freunde arbeiten in der Hilfswelt, und ich bekomme viele Einladungen von Organisationen, um mit ihnen zu diskutieren oder Vorträge zu halten. Es ist ja so, dass die sehr genau wissen, wo die Probleme liegen - ich zitiere in meinem Buch schließlich Berichte, die sie selbst angefertigt haben. Sie machen die Ergebnisse nur nicht öffentlich und ändern an den Problemen nichts.
Frage: Was können private Spender tun?
Polman: Kritisch sein und Fragen stellen: Was passiert mit den Spenden tatsächlich? Es muss zunächst ein öffentliches Bewusstsein für diese weitreichenden Probleme hergestellt werden. Nur so wird klar, dass man Hunger und Armut nicht löst, indem man zehn Euro spendet. Hier beginnen nämlich neue Probleme: Geht das Geld an diejenigen, für die es bestimmt war? Was verändert sich in bewaffneten Konflikten, Kriegen und Krisen durch das Geld? Welchen Einfluss hat es auf die Politik in dem betreffenden Land?
Frage: Sind Sie optimistisch, dass sich etwas ändert?
Polman: Ich bin immer optimistisch. Ich will immer glauben, dass Dinge sich ändern und besser werden. Am wichtigsten ist, dass die Organisationen im Interesse der Opfer handeln und nicht zu ihrem eigenen Wohl. Alles muss für die Opfer geschehen.
Quelle: Spiegel online
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